Was sich in den Zeitschriften Ende 1957 schon ankündigt, wird im Jahre 1958 schließlich als Anordung über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik veröffentlicht:

" Anordnung über die Programmgestaltung
bei Unterhaltungs- und Tanzmusik vom 2. Januar 1958.

§1
(1) Bei allen Veranstaltungen von Unterhaltungs- und Tanzmusik ist das Programm derart zu gestalten, daß mindestens 60 Prozent aller aufgeführten Werke von Komponisten geschaffen sind, die ihren Wohnsitz in der DDR, der Sowjetunion oder den Volksdemokratien haben. Diese Werke dürfen auch nicht in Verlagen außerhalb der angeführten Gebiete erstmalig erschienen sein. ..."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",2.Heft, 1/1958)

Trifft der eine den anderen Musikus und fragt: "Na, wie geht's?"
Sagt der andere: "Wie soll's gehen - 60 zu 40."

"Aber um dem sozialistischen Augenschein zu genügen, wird beispielsweise folgender Dreh angewendet. Bei der AMIGA-Langspielplatte 'Kalinka' werdern nur russische und sowjetische Titel geboten, aber alle im Swing- Arrangement. Eine Big-Band paßt die östlichen Songs in das Arrangementschema westlichen Schaugeschäfts, läßt den auf 'Rosy Singers' getrimmten DDR-Chor 'Gerd Michaelis' dazu den Background groonen - und fertig ist die sozialistische Tanzmusik nationaler Prägung. Sozialistisch ist dabei die Übernahme russischer und sowjetischer Titel, national die deutsche Sprache und die deutschen Interpreten - der Rest, die Tanzmusik, ist anglo-amerikanisch wie eh und je."
(aus 'Schlager in Deutschland',1972, Siegmund Helms, (R.Rudolf))


Wenn es Abend wird
Peter Wieland
(Solowjew; Dedoi; dt. S.Osten)
1960
(AMIGA Schlager Archiv 1: 1958-1968)

Wie tatsächlich mit dieser Anordnung von 1958 in den Jahren danach umgegangen wurde, wissen sicherlich am Besten diejenigen zu berichten, die mit ihr umgehen mußten. Auch darüber gibt es inzwischen Literatur. In den alten Zeitschriften findet man Artikel, wie den folgenden fast nur vor der Veröffentlichung der Anordnung.

"Uns liegen Programme von Veranstaltungen vor, in denen selbst an Feiertagen wie dem 1.Mai von manchen Kapellen nicht ein einziger Titel aus der Produktion des Verlages der DDR gespielt worden ist. ..."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",1.Heft, 1/1958)

Auch das Verkaufspersonal durfte seinen 'sozialistischen Beitrag' leisten:

"'Fräulein, 'ne Platte bitte'
- Ein Streifzug durch das Schallplattengeschäft

... Und so wird folglich eine Verkaufskraft, deren Ideal 'Sing, Jonny, sing' ist, auch ihren Kunden diese Platte besonders empfehlen, während eine andere vielleicht die 'Fidlowatschka' vorschlägt. Eine Verkäuferin, die die Qualitätsunterschiede beider Platten kennt, kann durch eine bewußte Lenkung wesentlich zur Weiterbildung des Geschmacks ihrer Kunden beitragen. ..."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",1.Heft, 9/1958)

'Fidlowatschka' - entsprach so ganz dem 'neuen Schlager' :

"'Fidlowatschka'
Eine Polka ist schon über 100 Jahre alt und doch jung geblieben. ... 'Fidlowatschka' klingt zärtlich, liebevoll; das Wort ist ja schließlich die Verkleinerungsform der Fiedel, der Geige. Mit der Stimme Lutz Jahodas erschien dieser Titel auf AMIGA-Schallplatte. Es ist eine der besten Leistungen des Sängers - es ist aber auch eine der besten Tanzmusikkompositionen der Produktion des letzten halben Jahres, die er vorträgt."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",1.Heft, 6/1958)

Aber der Teufel steckt in Detail ! - was später ein Leserbrief zeigt:

"Hugo Kaminsky, Prag:
... Unsere 'fidlovacka', bei Ihnen 'Fidlowatschka', ist in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ein hölzerner Stock, ist also 'kein Instrument, das man in Böhmen in jedem Hause und seit jeher kennt'. In Böhmen und der CSR versteht man heute unter 'Fidlowatschka' (auch bei uns mit großem Anfangsbuchstaben) fast nur noch ein berühmtes Prager Volksfest."

Antwort der Redaktion:
"Wir bedauern außerordentlich, ... , wofür wir unsere tschechischen Freunde nachträglich um Entschuldigung bitten.
Moral: Bevor man die Eigenarten eines fremden Landes besingt oder darüber schreibt - und das gilt auch für uns als Redaktion - muß man schon genauer darüber Bescheid wissen."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",2.Heft, 9/1958)


Zur eigenständigen Tanzmusik gehörten natürlich auch eigene, neue Tanzschritte, die es zu erfinden galt. Peter Czerny kündigt schon Anfang 1958 dieses neue 'Kampfziel' an.

"... wird es auch möglich sein, im Laufe der Zeit einmal neue Gesellschaftstänze zu schaffen. Wir können dann den westlichen Modetänzen endlich Eigenes entgegenstellen, in dem die Mentalität unserer ein neues Leben bauenden Menschen seinen Ausdruck finden müßte.(Peter Czerny)"
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",2.Heft, 2/1958)


Ein Jahr später - 1959
- war er da!



Heute tanzen alle jungen Leute ... Lipsi
Helga Brauer und die Flamingos
Kurt Henkels und das RTO-Leipzig
(K.Hugo; D.Schneider)
1959
(AMIGA Schlager Archiv 1: 1958-1968)

"Melodie und Rhythmus",
2.Heft, 1/1959)

(Übrigens nicht - wie oft gesagt 1960 -
da gab es bereits den 2. neuen DDR-Tanz: Pertutti.
Aber dazu später mehr.)

" Melodie und Rhytmus lüftet das Geheimnis des DDR-Patentes 1-3-4-5
Der Name Lipsi
Er klingt eigentlich auch ein wenig geheimnisvoll. Beim ersten Hören würden manche vielleicht eine Verwandtschaft mit Calypso vermuten. Aber die Sache verhält sich anders. Die Schöpfer des neuen Tanzes - der Komponist Rene Dubianski und das Tanzlehrerpaar Helmut und Christa Seifert - wirken alle seit Jahren in Leipzig. Und da Leipzig bei den alten Lateinern Lipsia genannt wurde, benutzten sie jenen Namen für den neuen Tanz. Man kann also sagen: ein interessanter, klangvoller Name, der zugleich eine tiefere Bedeutung hat.

Der Charakter des Lipsi
... Musikalisch ist zunächst ein lateinamerikanischer Einfluß unverkennbar, wenngleich in der ursprünglichen Konzeption von Rene Dubianski der Lipsi aus einer Art zweier Walzertakte zusammengesetzt sein sollte. Aber durch die rhythmische Betonung wurde daraus etwas Neues. Inzwischen liegen weitere Kompositionen vor. Dabei kann man die interessante Entdeckung machen, daß von der Melodik her immer mehr deutsche Elemente einströmen. Wir haben es hier also mit einem aufschlußreichen Beispiel zu tun, wie fremde Einflüsse in unsere nationale Musik eingeschmolzen werden können. Auf der Tanzmusikkonferenz, die vom 13. bis zum 15. Januar in Lauchhammer stattfand, wurde der Lipsi erstmalig vorgestellt.

Rene Dubianski
... Wir fragten Rene Dubianski, wie er eigentlich auf diese Idee gekommen sei. Das war so: Aus seiner Erfahrung als Kapellenleiter spürte er sehr deutlich, daß ältere Menschen beim Spielen von ausgesprochenen Modetänzen sich oft etwas verlassen fühlen. Er wollte nun einmal etwas schreiben, was zwar modern ist, aber auch die Verbindung mit der Tradition aufrecht erhält. ..."
(Zeitschrift "Melodie und Rhythmus",2.Heft, 1/1959)

Fast ein Jahr lang erscheint nun in jeder Ausgabe der oben genannten Zeitschrift ein Beitrag zum Lipsi. Ob dieser Tanz - in Zeiten, wo der 'Rock'n Roll' die Welt eroberte, die DDR-Jugend überhaupt erreichte, wage ich zu bezweifeln. Ich selbst hätte mir damals wahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, die so 'leichten' Tanzschritte zu erlernen.
Wer es dennoch jetzt tun möchte - bitte schön :
Die Lipsi-Schritte!

"Damit ist eindeutig bewiesen, daß wir über starke schöpferische Kräfte auf dem Gebiet der Tanzmusik verfügen und das unsere Bestrebungen von Erfolg gekrönt sind, wenn auch unserem Tanzmusik-Schaffen die richtige Orientieung gegeben wird,..."
(aus 'Das Musikleben in der DDR (1945-1959)', Prof.Dr. Karl Laux)



WEITER ? ... ->